Print Friendly and PDF

Aktueller Artikel


Schöpferisches Denken

Hanneke und Hans Korteweg

 

Der folgende Text stammt aus einem Buch der holländischen Autoren Hanneke und Hans Korteweg, das 1991 erschienen ist. Sein Titel lautet «Dem inneren Licht folgen». Im Kapitel über «Schöpferisches Denken» beleuchten sie, wie wir ein erfüllendes, schöpferisches Leben führen können, indem wir konsequent unseren tiefsten Wünschen, unserer Lichtlinie folgen. Ein ermutigender, berührender Text, der uns daran erinnert, wozu wir hier sind.



Wir leben in aufeinanderfolgenden Momenten,

in steter Trennung, in Teilen und Teilchen.

Und indessen lebt im Menschen die Seele des Ganzen,

das weise Schweigen, die Weltschönheit,

mit welcher jeder Teil und jedes Teilchen in Zusammenhang steht:

das Ewig-Eine.


Ralph Waldo-Emerson, «Die Über-Seele»


Als Mensch besitzt man die Fähigkeit, über alles nachzudenken und sich alles Erdenkliche vorzustellen. Man hat die Freiheit, damit so weit zu gehen, wie man will. Dem Vorstellungsvermögen des Menschen sind keine Grenzen gesetzt. Es ist nicht an die Gesetze der Schwerkraft gebunden, nicht an die Begrenzungen von Zeit und Raum. Du kannst dir alles vorstellen, jede Existenz, jede Zukunft, die du nur wünschst. Nichts liegt fest, wenn du dich nicht mehr vom niederen Denken bestimmen lässt.


Auch den Sinn deines Lebens kannst du dir vorstellen. Selbst dies ist keine Wahrheit, die ausserhalb von dir liegt. Du bist derjenige, der bestimmt, warum du hier auf Erden bist: aufgrund von altem Karma, rein zufällig, weil du eine bestimmte Aufgabe hast, nur aufgrund der biologischen Vereinigung deiner Eltern, weil du auch diese Zeit-Räumlichkeit einmal erforschen wolltest oder warum auch immer. Auf die Frage nach dem Sinn deines Lebens gibt es keine eindeutige, allgemeingültige Antwort, die du nur zu entdecken bräuchtest sowie die Lösung eines Kreuzworträtsels. Nein, du selbst bist die Antwort, und du findest deine Antwort, wenn du dich nicht mehr von der Vergangenheit bestimmen lässt, nicht mehr denkst, dass jemand oder etwas ausserhalb von dir die Antwort weiss, und wenn du es wagst, dein kreatives Vorstellungsvermögen zu entfalten. Das, was du dann wahrnimmst, ist deine Antwort.


Du bist für dich selbst der einzige Zugang zum Leben. Du bist das Leben, welches das Leben wahrnimmt und liebt oder nicht liebt. Es ist dir unmöglich, dir ausser dem Leben noch etwas anderes vorzustellen. Du bist eine Manifestation des Lebens; deine Gedanken sind eine Form von Leben, wie tief oder wie weit sie auch reichen mögen. Der Sinn deines Lebens kann sich nur in deinem Leben enthüllen, nicht ausserhalb davon.


Wenn du dein Leben vollkommen erfüllst, von Augenblick zu Augenblick, indem du dafür sorgst, dass deine tiefsten Wünsche Wirklichkeit werden, kreierst du damit in jedem Augenblick den Grund für deine Existenz. Das ist Sinngebung. Wenn du so lebst, gibt es für dich nichts mehr ausserhalb des gegenwärtigen Augenblicks. Leben und Sinngebung ist dann gleichbedeutend damit, alle Aufmerksamkeit auf das Hier und jetzt zu konzentrieren. Das ist die allergrösste Kunst. Es entsteht etwas Neues in dir, wenn du dem, was in dir emporsteigt, deinen tiefsten Wünschen, konsequent folgst. Deine liebsten Wünsche sind die Lichtlinie, die dich durch das Labyrinth des Raum-Zeitlichen geleitet. Wenn du dieser Lichtlinie unablässig folgst und mit allem, was du bist, den Hindernissen entgegentrittst, denen du auf deinem Weg unvermeidlich begegnest, kreierst du, wie nur du kreieren kannst Der Lichtlinie zu folgen erfordert Hingabe, Mut und Unterscheidungsvermögen von dir, doch die Kreation kommt zustande, indem du deine eigene Antwort auf das gibst, was dir auf deinem Weg begegnet.


Dieses Thema klingt in vielen Märchen an. In einem solchen

Märchen suchen drei Brüder für ihren Vater die Wundernachtigall, den Vogel, der mit seinem jubelnden Lied Tote zum Leben erwecken kann. Die drei Brüder wünschen sich von ganzem Herzen, diese Wundernachtigall zu finden, doch fehlt den beiden ältesten die Hingabe, der Mut und das Unterscheidungsvermögen, um diesen Wunsch konsequent zu verfolgen. Nur der jüngste ist dazu in der Lage. Doch auch er stösst auf Hindernisse: Eine verwundete Taube liegt am Wegesrand. Auch er möchte die Wundernachtigall möglichst bald finden, trotzdem hält er sein Pferd an und steigt ab. Dies ist seine Antwort, sein kreativer Akt. Obgleich auch er darauf brennt, sein. Ziel zu erreichen, ist er mit ganzem Herzen bei dem, was ihm begegnet. Zwar führt dies nach den Gesetzen der herkömmlichen Logik zu einer Verzögerung seiner Reise, doch tatsächlich stellt sich heraus, dass er, gerade weil er bei der Taube anhält, schneller zu seinem Ziel kommt. Die Taube erzählt ihm nämlich, welche Hindernisse er auf seinem weiteren Weg antreffen wird und wie er ihnen am besten begegnet. So findet der Held dieser Geschichte, gerade weil er sich mit einem Hindernis befasst, schliesslich das, was er sich am innigsten wünscht. Er erreicht sein Ziel und findet persönliche Erfüllung.


Die grösste Erfüllung findest du in Dingen, die du so tust, wie nur du es kannst. Das sind deine Kunstwerke. Damit trägst du etwas Essentielles, Einzigartiges bei und bist gleichzeitig völlig in deinem Element. So zu leben bedeutet zu spielen. Die ganze Schöpfung ist dann ein einziges grosses Spiel, ohne dass man dahinter oder darin eine ernsthaftere Bedeutung suchen müsste. Du bist das Leben, das mit dem Leben spielt, denn du spielst natürlich niemals allein.


Zwar kann dieses gemeinsame Spiel unterbrochen werden, wenn man Vorbehalte hat, sich ein Hintertürchen offenhält oder die angeblichen Privatinteressen wahrt. Dann gerät das Spiel ins Stocken, und sogleich ist es auch mit dem schöpferischen Prozess und mit der Freude vorbei. Doch wenn du das Spiel nicht unterbrichst, wirst du anderen begegnen, die ebenso wie du das, was ihnen an sich selbst das Liebste ist, «aufs Spiel setzen», die wie du bereit sind, bis zum Äussersten zu gehen, jeden Moment von neuem. Und in dem so entstehenden gemeinsamen Spiel bildet sich wieder ein neues Ganzes. Je mehr Raum das gemeinsame Spiel erhält, umso besser können die Leerräume mit Neuschöpfungen ausgefüllt werden.


Auf diese Weise entstehen unzählige Formen und immer mehr Spieler. Du stellst fest, dass du dieses Spiel weiter und weiter fortsetzen willst. So wie eine Schlange immer wieder ihre Haut abstreift, so gehst du von jeder Form, die du geschaffen hast, in eine neue Form über. Du hast immer weniger Angst davor, das Alte hinter dir zu lassen. Immer bewusster geniesst du deine Freiheit und deine schöpferische Kraft, und du wirst dir immer sicherer, dass das Leben dich nicht fallen lassen wird. Ein Spiel ohne Ende.

Aber bevor du so weit bist …


Hanneke und Hans Korteweg